Die ersten hundert Tage…

Die ersten hundert Tage…

Seit gut 100 Tagen ist Claudio Tomassini neuer Seelsorger und Pfarreileiter in unseren Pfarreien Baden und Ennetbaden. Eine perfekte Gelegenheit, ihm dazu ein paar Fragen zu stellen. Im Interview spricht er Ziele, Grenzen und ihre Grenzen, Begegnungen und über kleine Wunder im Alltag. Lassen Sie sich überraschen, inspirieren und von der positiven Schaffenskraft von Claudio Tomassini anstecken. Oder wie er so passend sagt: «Allegro con cuore!»

Interview: Elvira Rumo


Claudio, du bist nun dreieinhalb Monate in der neuen Funktion tätig. Ein perfekter Zeitpunkt, um eine kurze Bilanz zu ziehen. Fühlst du dich wohl bei uns in Baden und Ennetbaden sowie in der neuen Rolle?

Claudio Tomassini: Unglaublich, ich habe das Gefühl, ich sei schon viel länger hier, und das ist ein gutes Zeichen. Ich gehe gern zu den Menschen nach Hause und bin viel unterwegs in den Quartieren. Ich kenne also schon viele Wege und Strassen wie ein Taxifahrer (lacht). Ich erlebe eine grosse Offenheit und werde herzlich empfangen. So fühlte ich mich hier von Anfang an schnell zuhause. Wenn am Freitag und Samstag die Menschen in die Stadt strömen, dann kommt trotz Arbeit sogar etwas Ferienstimmung auf. Es liegt dann so eine Leichtigkeit und Fröhlichkeit in der Luft.

Meine Rollen und Aufgaben sind mir ja nicht neu. Ich bin schon seit vielen Jahren einerseits Seelsorger und andererseits Pfarreileiter; beides in einer guten Balance, und darin liegt ein gesunder Ausgleich. Ich schätze die Abwechslung und Vielfalt und liebe die Begegnungen mit Menschen. Diese sind immer wieder überraschend und einzigartig. Das macht meine Aufgabe so schön und ist ein Geschenk für mich.

Gemessen an deinen eigenen Zielen: Waren es erfolgreiche erste 100 Tage?

Claudio Tomassini: Mein Ziel ist es, nicht nur «eigene Ziele» zu haben. Ich bin auch nicht sicher, ob diese nach 100 Tagen schon messbar beziehungsweise ob diese in der Seelsorge überhaupt messbar sind? Was soll der Massstab sein, ob etwas erfolgreich ist oder nicht? Entscheidender ist, dass wir uns nicht (zu) grosse Ziele vornehmen, sondern wach und offen bleiben für den Moment in der Begegnung mit Menschen und uns davon leiten lassen. Erfolge sind dann keine Produkte, sondern dass Menschen sich wahrgenommen und willkommen fühlen, gestärkt und ermutigt zum Leben. Das ist von aussen nicht einfach so messbar und doch wesentlich. Es gibt Indikatoren dafür; manchmal ist es ein Aufschnaufen, manchmal ein Leuchten in den Augen oder nach einigen Tagen ein Lebenszeichen.

Ich bin überzeugt, dass wir gemeinsam so als Pfarreien und Freundinnen und Freunde von Jesus weiterkommen und sich uns so auch ungeahnte Möglichkeiten und Wege eröffnen. Wir müssen den Mut haben, mit leeren Händen zu gehen und für alles offen zu sein. So ergeben sich kleine Wunder im Alltag, aber danach hast du ja nicht gefragt. Vielleicht wird das dann im 10-Jahres-Interview eine Frage: Welchen Wundern ich in den Pfarreien Baden-Ennetbaden begegnet bin?

Ich begegne ihnen jeden Tag! Ich übertreibe nicht, und ein Beispiel haben wir alle unerwartet im Bild vom kraftvollen Baum im Osterbrief erlebt. Es wurde uns allen geschenkt – als Gebet und Wunsch für die Zukunft. Das Bild steht in vielen Wohnungen und ich staune, wie viele Reaktionen ich auf den Osterbrief erhalte bis heute – auch von Menschen, die mir schreiben, dass sie schon lange keinen Kontakt mehr mit der Kirche hatten, aber von diesem farbigen Bild berührt sind. So blicke ich hoffnungsvoll über die 100 Tage hinaus auf die kommenden Jahre – und Bäume überleben bekanntlich ja unsere Tage.

Und wo bist du vielleicht an Grenzen gestossen?

Claudio Tomassini: … schmunzelt… ich bin froh, dass die Arbeitstage nicht grenzenlos sind! Ich gehe jeden Abend nach Hause und weiss, dass ich nicht fertig bin. Das ist gut so. Grenzen ziehen wir uns oft selbst und setzen sie in unseren Köpfen und Herzen fest. Man kann die Limmat als natürliche Grenze sehen oder als Einladung, darüber Brücken zu bauen aus Holz und Stein, Schräge und Gerade. Für die einen mag sie ein unüberwindbares Hindernis sein und für die anderen ein Abenteuer, neue Ufer zu entdecken. Die einen sprinten motiviert den Limmat-Lauf und die anderen spazieren lieber gemütlicher verliebt Hand in Hand. Grenzen sind wichtig und sollen uns zu denken geben – auch über die Grenzen hinaus. Wie sonst hätte der eben verstorbene britische Physik-Nobelpreisträger Peter Higgs das «Gottesteilchen» erahnen und entdecken können? Wie sonst könnte eine Friedenskonferenz Mitte Juni in der Schweiz eine kleine Bewegung an der Grenze sein, die Hass und Krieg zwischen Menschen und Völkern schlagen?

Wir können nicht jeden Tag die ganze Welt retten, aber vor Ort in unserer «kleinen Welt» einen Beitrag leisten. Es steht uns frei, die Limmat als schönen, gemeinsamen und weiten Lebensraum zu sehen, der uns verbindet und den wir als Pfarreien und Kirchen, als Städte und Dörfer gemeinsam gestalten liebevoll und lebenswert für alle.

Gibt es eine Begegnung, die dir speziell in positiver Erinnerung geblieben ist?

Claudio Tomassini: Ja! Davon gibt es schon 100 mal 100… bevor ich startete bereits im Dezember die Begegnung mit der Marronifrau in der City. Die erste Taufe, die erste Beerdigung. Nach dem ersten Familiengottesdienst im Januar stand ich ein paar Tage später in Ennetbaden auf dem Kirchplatz. Eben war die Schule aus und die Schülerinnen und Schüler sprangen in alle Himmelsrichtungen nach Hause. Ein paar Kinder steuerten direkt auf mich zu und sagten: «Sie sind der Herr Tomassini, wir haben dich am Sonntag in der Kirche gesehen!» – einfach wunderbar. Schön sind auch die stillen Begegnungen, wenn ich über den Kirchplatz gehe, die Leute auf den «Sonnen-Bänkli» sehe und ich mich mit ihnen zusammen über die ersten warmen Sonnenstrahlen freue. Mitte März reiste ich zum ersten Mal in meinem Leben nach Bad Schönbrunn ins Lassalle-Haus im Kanton Zug, um dort Pater Toni Kurmann zu treffen und mit ihm die Ostergottesdienste zu besprechen. Ich war zu früh und musste warten bis der Abendgottesdienst im Haus zu Ende war. Ich sah mich in der grossen Eingangshalle um. Da hörte ich von weitem die Kapellentür und die Hausgäste strömten zur Eingangshalle Richtung Speisesaal – allen voran zwei strahlende Damen, die staunend auf mich zu liefen: «Was machen Sie denn hier? Sie sind doch unser neuer Pfarreileiter in Baden?». So klein ist die Welt und es braucht so wenig und sie ist uns Heimat. Danke. 

Was wünscht du dir für unser Pfarreileben?

Claudio Tomassini: Leben! Und diesen Wunsch habe ich mit dem «Osterbaum» bereits ausgesprochen und uns allen ans Herz gelegt. Ich bete, dass er zum Blühen kommt und uns gute Früchte schenkt. Wir sind alle ein Teil davon mit den jungen Trieben und den erfahrenen Ästen – verbunden mit dem kräftigen Stamm und den göttlichen Wurzeln, die uns tragen und lebendig halten. Niemand kann allein alles tun. Wir hüten, pflegen und leben es gemeinsam. Das ist mein Wunsch: dass wir gemeinsam für das Ganze sorgen – nicht verbissen, sondern mit Freude und mit allen unseren Kräften. Im Sinne des spanischen Heiligen und Ordensgründers Ignatius von Loyola: «Handle so, als ob alles von dir abhinge, in dem Wissen aber, dass in Wirklichkeit alles von Gott abhängt».

Damit uns dies gelingt, brauchen die jungen Triebe unsere besondere Aufmerksamkeit und Pflege. Jesus hat uns vorgelebt, die Kleinen und Schwachen in die Mitte zu nehmen. Manchmal denke ich, wir sollten noch mutiger mehr Aufgaben den Kindern und Jugendlichen in die Hände geben und ihnen unser Vertrauen schenken. Ich bin überzeugt, dass wir uns da beschenken lassen dürfen. Wer weiss, vielleicht kommen wir mal dazu – einmal im Jahr – einen Gottesdienst nur mit allen Kindern zu feiern – die Stadtkirche gehört dann ganz ihnen und die Erwachsenen feiern in der Sebastianskapelle? Ich wünsche uns, dass Gott uns noch ganz viele Wünsche in unsere Seelen und in unsere Träume pflanzt und immer in unserer Mitte wohnt.

Neben deinen anspruchsvollen beruflichen Tätigkeiten: Wo und wie tankst Du Energie für die täglichen Herausforderungen?

Claudio Tomassini: Meine Familie gibt mir Kraft, ganz selten Ärger und viel mehr Freude und ist jeden Abend mein sicherer Hafen! Ich werke gern im Garten, bastle selbst Tischbomben und liebe es zu kochen. Wenn ich allein bin, beginne ich oft zu pfeifen, ein Instrument, das ich überall dabeihabe – allegro con cuore!

Claudio, herzlichen Dank für deine Zeit und weiterhin viel Freude und positive Energie bei deiner Arbeit!