Ein klassisches Beispiel: Ijob. Ein frommer Mensch. Er beachtet und befolgt das Gesetz des Herrn. Er ist erfolgreich, ihm geht es in vielen Belangen gut: Gesundheit, Familie, Besitz. Eines Tages beginnt er alles zu verlieren und hat irgendwann nichts mehr. Bei ihm und in seinem Umfeld tauchen Fragen auf: Ist das gerecht? Wie gerecht ist dieser Gott, der den Frommen bestraft und den Ungerechten, den Frevler fördert und mit vielen guten Gaben beschenkt? Ist das nicht ein Drama für den religiösen Menschen, der seinem Gott treu dient, ohne scheinbar den gerechten Lohn dafür zu erhalten? Für unsere weitere Überlegung blenden wir Ijob in der Phase seiner Rehabilitation aus.
Paradigmenwechsel: der Mensch in horizontaler Betrachtung. Die Situation wird im Evangelium beschrieben: Angestellte im Weinberg bekommen denselben Lohn, wobei nicht alle gleich lange gearbeitet haben. Rechnerisch geht das nicht auf. Offensichtlich handelt Gott nicht nach menschlicher Rechnerei. Hierzu denke ich an eine Anekdote, welche Angelika Überrück zur Auslegung dieser Passage erzählt. Ein Bub legt seiner Mutter eine Rechnung für die Arbeit hin, die er bei seiner kleinen Schwester leistet: Anziehen, Aufpassen, Einkaufen, Geschichten vorlesen. Die Mutter bezahlt wohl die Rechnung des Sohnes und schreibt ihrerseits auf, was sie für die Kinder alles geleistet hat. Die Liste ist lang: Haushalt, Kochen, Einkaufen, Waschen, Bügeln, Kinder pflegen, erziehen, begleiten u.v.m.; alles zum Nulltarif. Daraufhin realisiert das Kind seinen Fehler und gibt der Mama das Geld zurück. Damit zurück zum Evangelium. Das Verhalten des Hausherrn fordert uns heraus, unser Verständnis von Gerechtigkeit zu überdenken. Bei dem Hausherrn im Evangelium sind Gerechtigkeit und Gutsein ein und dasselbe. Oder anders gesagt: Seine Gerechtigkeit besteht darin, den Menschen gerecht zu werden. Und er wird ihnen gerecht, indem er sieht und ihnen gibt, was sie zum Leben brauchen. Gottes Gerechtigkeit bedeutet nicht den Menschen nach seinem Verdienst zu vergelten, sondern ihn zu versorgen in all seinen Bedürfnissen. Allein die Tatsache, dass alle Menschen von Natur aus nicht mit gleichen Begabungen und Talenten beschenkt sind, könnte eine berechtigte Frage nach der Gerechtigkeit Gottes aufwerfen.
Bei genauerem Hinschauen stellt sich heraus, dass die Welt auf dem Prinzip der Vielfalt bzw. auf der Basis der scheinbar ungerechten Verteilung der Schöpfung ruht. Ohne diese Diversität gäbe es das Schöpfungswerk nicht. Die Welt wäre kaum vorstellbar. Ich lese hier im Hintergrund eine Werbung für eine schöpfungsgerechte Solidarität; und dies in doppelter Hinsicht: in den zwischenmenschlichen Beziehungen zum einen, und auf Staatsebene (und darüber hinaus) zum anderen. Das Steuersystem, nach dem Steuerzahler unterschiedlich ihrer Pflicht nachkommen, ist eine leuchtende Illustration einer «ungerechten» Gerechtigkeit.
Fazit. Die Gerechtigkeit Gottes ist nur gerecht, indem sie ungerecht erscheint. Deshalb möchte ich leben im Wissen darum: Gott betreut uns Menschen unterschiedlich und anders. Ich gehe durchs Leben mit der Zuversicht: Was auch kommen mag, meint es Gott gut mit mir; seine Gerechtigkeit entgeht unserem menschlichen Rechnen.
Abbé Zacharie