Die 10 Gebote – eine Anleitung zum glücklichen Leben

Teil 1:

Stellen Sie sich vor, ihr Kind kommt aus der Schule nach Hause und stöhnt: Ich muss die 10 Gebote auswendig lernen. So was Ödes! Immer nur: du sollst, du sollst.“ Wie reagieren Sie? „Das mussten wir früher auch. Das schadet dir gar nicht“, ist eine Möglichkeit. „Sei froh, dass es nur 10 und nicht 99 sind“, eine andere. Möglich ist aber auch. dass Sie über ihren Sohn oder ihre Tochter selbst in die Auseinandersetzung mit den 10 Geboten hineingezogen werden. Das könnte so ablaufen:
Justus kommt aus der Schule nach Hause und … (siehe oben). Er würde viel lieber das Modelflugzeug zusammenbauen, das ihm sein Opa geschenkt hat. Eine Seagull X4. Mit Fernsteuerung. Da meint Opa überraschenderweise, dass der Modellbausatz und die 10 Gebote viel gemeinsam haben. Die Gebote seien auch eine Art Anleitung, „eine Anleitung für ein glückliches Leben.“ Während Justus und sein Opa in dessen Werkstatt die Seagull X4 bauen, unterhalten sie sich. Opa Karl erzählt, dass er als Kind auch Mühe hatte mit den 10 Geboten. Und dass er erst später, als Erwachsener, verstanden hat, was sie wirklich bedeuten. Mit einer Karte von Tante Luise zu seiner Hochzeit fing es an. „Gott ist die Liebe“ stand da drauf. Dieser Satz machte ihm klar, was mit dem ersten Gebot gemeint war. „Du sollst keine anderen Götter neben mir haben“, das heisst: „Das Wichtigste in deinem Leben soll die Liebe sein.“ Opa fährt fort: „Und wenn du die Augen offen hältst, wirst du sehen, dass wir jeden Tag mit den 10 Geboten zu tun haben.“ Und tatsächlich. Das erste Gebot kommt wieder ins Spiel, als Justus‘ Mutter erzählt, dass ihr Chef eine seit vielen Jahren bewährte Mitarbeiterin entlassen hat. Sie war in letzter Zeit oft krank, weil sie an einer hartnäckigen Nierengeschichte leidet. Der Chef ist ein fleissiger Kirchgänger, aber Opa Karl meint: „Es nützt gar nichts, in der Kirche in der ersten Reihe zu sitzen, wenn man anderen Göttern dient.“ Justus horcht auf: „Glaubt Mamas Chef an andere Götter?“ „Allerdings“, sagt sein Opa. „An den Gott ‚Geld‘, an den Gott ‚Profit‘, an den Gott ‚Gier‘. Für die tut er alles.“

So beginnt das Buch „Justus und die 10 Gebote von Brigitte Enders und Eleonore Gerhoher. Am Ende des Buches wird die Seagull X4 fertig sein und sich in den Himmel erheben. Justus hat gelernt: „Das mit der Anleitung ist wichtig.“ Er wird mit Hilfe von Opa Karl die 10 Gebote in heutige Sprache übersetzt und mit seinem Leben in Verbindung gebracht haben. Schön, aber mir reicht das nicht. Ich will ja Sie, die Eltern, zur Auseinandersetzung mit den 10 Geboten bringen. Dafür setze ich bei einer Stelle im Buch an, die mich ärgert. Da lässt Pfarrer Becker, der Religionslehrer, die 10 Gebote abschreiben und sagt: „In zwei Wochen bei der Klassenarbeit erwarte ich, dass ihr sie auswendig könnt und Beispiele dazu kennt.“ Mich ärgert diese Karikatur von einem Religionslehrer, auf dessen dunklem Hintergrund sich Opa Karl umso heller abheben kann. Deswegen geht die Geschichte bei mir weiter. Bei einem Elternabend in der Schule treffen die Eltern von Justus, Herr und Frau Wehrli Fernandez, auf Pfarrer Becker und erzählen ihm, was die 10 Gebote bei ihrem Sohn so alles ausgelöst haben. Und dass sie selbst auch angefangen haben, darüber nachzudenken. Pfarrer Becker ist hocherfreut und sagt, dass damit die Gebote bei der richtigen Zielgruppe angekommen sind. Was er damit meine, fragen die Eltern. Sie richten sich nicht an Kinder, erklärt der Lehrer. Sie richten sich Erwachsene. Mehr noch: an erwachsene Menschen, die frei genug sind, eigenständige Entscheidungen zu treffen. Mehr noch: an freie Menschen, die über Einfluss in der Gesellschaft verfügen und Verantwortung tragen. Das müssen Sie uns näher erklären, sagen die Eltern von Justus. Das tut Pfarrer Becker dann auch.

Teil 2: Anwältin für freie Zeit

„Die 10 Gebote richten sich an freie Menschen, die über Einfluss in der Gesellschaft verfügen und Verantwortung tragen“, sagt Pfarrer Becker zu Herrn und Frau Wehrli Fernandez beim Elternabend. „Das müssen Sie uns näher erklären“, anworten die beiden dem Religionslehrer ihres Sohnes. „Gerne“, meint der. Sie setzen sich und Pfarrer Becker schlägt seine Bibel auf. „Lesen Sie doch mal dieses Gebot“, bittet er. Herr Wehrli liest laut: „Der siebte Tag ist ein Ruhetag, dem Herrn, deinem Gott, geweiht. An ihm darfst du keine Arbeit tun: du, dein Sohn und deine Tochter, dein Sklave und deine Sklavin, dein Rind, dein Esel und dein ganzes Vieh und der Fremde, der in deinen Stadtbereichen Wohnrecht hat“.- „Sehen Sie, das richtet sich doch eindeutig an jemanden, der Vieh besitzt, Sklaven und Sklavinnen hat und der sowohl in seiner Familie als auch in der Stadt, in der er lebt, Entscheidungen treffen kann. Damals waren das vor allem Männer.“ „Ach, und weil die Frau nicht erwähnt wird, heisst das wohl, dass sie als einzige nicht ausruhen darf! Muss die etwa alle anderen bedienen?“ empört sich Frau Fernandez. „Nein, ich glaube nicht“, sagt Herr Becker. „Das würde dem Sinn des Gebotes völlig widersprechen. Es gilt für alle. Der Mann ist dafür verantwortlich, dass die, die ihm untergeben sind, ihr Recht bekommen. Seine Frau wird nicht erwähnt, weil sie ihm eben nicht untergeben ist. Sie ist für sich selbst verantwortlich.“ „Dann gelten die 10 Gebote nur für Männer?“ fragt jetzt Herr Wehrli mit bekümmerter Miene. „Dem Wortlaut nach ja“, sagt Herr Becker. „Aber ihrem grundsätzlichen Sinn nach richten sie sich an Menschen mit Einfluss und Verantwortung. Dieser Sinn ist wichtiger als der Wortlaut. Manchmal muss man vom Wortlaut abweichen, um den Sinn zu bewahren. In einer gleichberechtigten Gesellschaft sind Frauen und Männer angesprochen. „Okay“, meint Herr Wehrli. „Es geht also darum, Verantwortung zu übernehmen – für mich und für die, die von mir abhängig sind. In diesem Fall dafür, dass alle genügend Zeit zum Ausruhen haben“. „Erinnerst du dich an das, worüber wir gestern gesprochen haben?“, unterbricht ihn seine Frau. „Seit Justus und Mareike in die weiterführende Schule gehen, haben Sie unter der Woche kaum noch Freizeit. Der Stundenplan ist voll und dann noch die Ufzgi. Und der Sportverein. Und die Geigenstunden. Unverplante Zeit gibt es nur noch am Wochenende und da wollen wir dann soviel machen, dass es auch wieder Stress gibt.“ „Da müssen wir uns wohl auch selber an der Nase nehmen“, fährt Herr Wehrli nachdenklich fort. „Manchmal wollen wir zu viel.“ „Ich glaube, ich werde jetzt zur Anwältin für freie, nicht verplante Zeit – für mich und für unsere Kinder“, sagt Frau Fernandez. Und zu Pfarrer Becker gewandt fährt sie fort: „Wissen Sie, dass Justus mit seinem Opa viel über die 10 Gebote spricht? Immer dann, wenn sie in Opas Werkstatt miteinander basteln. Opa Karl übersetzt dann die 10 Gebote immer in seine Sprache. Wissen Sie, wie er das Gebot übersetzt hat, wo es um den Ruhetag geht?“ „Wie denn?“ fragt der Lehrer. „Finde Ruhe, deine innere Stimme zu hören“, sagt Frau Fernandez. „Die innere Stimme ist für ihn die Stimme Gottes, die Stimme der Liebe. Sie sagt: Nimm dir Zeit für andere Menschen und für dich selbst, Zeit zum Kraftschöpfen. Das hat mir schon gut gefallen, als er es heute morgen erzählt hat. Aber jetzt ist mir klar geworden, dass mich das auch in die Verantwortung nimmt.“ „Ich habe den Eindruck, das war grade ein richtiges Aha-Erlebnis für Sie“, meint Pfarrer Becker. „Das ist genau das, was der allererste Satz der 10 Gebote sein will.“ „Jetzt reden Sie wieder in Rätseln, Herr Pfarrer“, ruft Herr Wehrli. „Aber für heute reicht’s mir ehrlich gesagt auch. Können wir das Gespräch über die Zehn Gebote nicht ein andres Mal fortsetzen?“. „Gerne“, sagt Pfarrer Becker. „Ich komme wieder auf Sie zu.

Teil 3: „Weiss du noch…“

„Der erste Satz der 10 Gebote will ein Aha-Erlebnis auslösen“, hatte Pfarrer Becker beim Elternabend zu Herrn und Frau Wehrli Fernandez gesagt. Am Abend selbst war keine Zeit mehr gewesen zu erklären, was er damit meinte. Aber schon ein paar Tage später rief Pfarrer Becker an und lud die beiden auf ein Glas Wein in die Pinte, die Dorfbeiz ein. Als ihr Sohn Justus davon hörte, war er völlig überrascht. „Ihr geht mit meinem Religionslehrer in den Ausgang und redet über die 10 Gebote?“ fragte er und meinte kopfschüttelnd: „Abgefahren.“
In der Pinte kam Herr Wehrli wie es seine Gewohnheit war, gleich zur Sache. „Wie haben Sie das gemeint mit dem ersten Satz der 10 Gebote und dem Aha-Erlebnis?“, fragte er. „Was ist denn eigentlich der erste Satz? Das erste Gebot, oder nicht? Darüber haben wir ja schon gesprochen. Wie heisst es gleich?“ – „Du sollst keine anderen Götter neben mir haben“, antwortete ihm seine Frau. „Und in Opa Karls Worten: Das Wichtigste in deinem Leben soll die Liebe sein.“
„Nein“, sagte Pfarrer Becker, „ich meine nicht das erste Gebot. Ich meine den ersten Satz, der vor allen Geboten steht. Er lautet: „Ich bin dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus“. Im Judentum spricht man übrigens nicht von den 10 Geboten, sondern von den 10 Worten und das ist das erste Wort.“
„Warum ist hier die Rede von Ägypten?“, fragte Frau Wehrli Fernandez. „Ich muss bei Ägypten nicht an ein Sklavenhaus denken, sondern an unseren wunderschönen Urlaub vor zwei Jahren.“ Pfarrer Becker musste lachen. „Gut, dass Sie das sagen. Ägypten hat in der Bibel eine schlechte Presse. Zum Glück nicht an allen Stellen. „Ägypten“ steht stellvertretend für alle Mächte, die Menschen unterdrücken, klein machen und an der Entfaltung ihrer Lebensmöglichkeiten hindern. Die biblische Geschichte vom Auszug aus Ägypten erzählt, dass es trotzdem möglich ist, dass Menschen sich befreien und den aufrechten Gang lernen. Alles kann zu Ägypten werden: ein Staat, eine Kirche, eine Beziehung…“
Sie schweigen eine Zeit lang und hängen alle drei ihren Gedanken nach. Dann meldet sich Herr Wehrli wieder: „Aber nochmals: Was hat das mit einem Aha-Erlebnis zu tun?“ Pfarrer Becker antwortet: „Die Gebote richten sich an Menschen, die Ägpyten hinter sich gelassen haben. Sie wollen kein neues Sklavenhaus sein, keine Bevormundung. Sie richten sich an Menschen, die Freiheit und aufrechten Gang im eigenen Leben erfahren haben. Der erste Satz will uns an diese Erfahrungen erinnern. Wir vergessen sie nämlich allzu leicht. Aber nur, wenn wir uns daran erinnern, macht es Sinn weiter zu lesen und über die Gebote nachzudenken.“
„Weißt du noch“, wendet sich Frau Wehrli Fernandez an ihren Mann, „wie schlecht es dir bei deiner früheren Arbeitsstelle ging? Dein Chef war ein echter Tyrann. Für deine guten Ideen war kein Platz, weil er eigentlich Angst vor dir hatte. Und dazu die Konkurrenz unter deinen Kollegen! Und als du dann – nach der Geburt von Justus – auch noch dein Pensum reduzieren wolltest, um mehr Zeit für die Familie zu haben. Weißt du noch?“ „Ja“, sagt Herr Wehrli. „Das war wirklich eine Befreiung, aus dieser Mühle herauszukommen. Und eine Stelle zu finden, an der ich geschätzt werde und Verantwortung übernehmen kann.“ „Das freut mich für Sie“, sagt Pfarrer Becker. „Sie sprechen davon, Verantwortung zu übernehmen. Darum geht es auch in den Zehn Geboten. Sie wollen uns helfen, mit der gewonnenen Freiheit verantwortungsvoll umzugehen. Und neben der eigenen Freiheit auch die Freiheit der Anderen zu sehen und zu schützen.“ „Dann sind sie also, wenn ich Sie recht verstanden habe, eine Art Wegweiser“, meint da Herr Wehrli. „Ein Wegweiser, um nicht nach Ägypten zurückzukehren. Oder sagen wir besser: nicht ins Sklavenhaus zurück.“ „Ja, genau“, staunt Pfarrer Becker. „Das trifft es. Darauf würde ich gerne mit ihnen anstossen.“ Und das tun sie.

Teil 4: Lernprogramm fürs Leben

Hans Wehrli-Fernandez stand hinter der Ladentheke im Computershop, als Pfarrer Becker hereinkam. «Das ist ja eine Überraschung», sagte er. «Naja», meinte Pfarrer Becker. «Ich will mir einen neuen Computer anschaffen. Und da dachte ich, lass‘ dich mal beraten.» «Gerne», fand Herr Wehrli. «Darf ich Sie vorher noch etwas anderes fragen, was mit unserem Gespräch in der Pinte zu tun hat?» «Worum geht es denn genau?» fragte Pfarrer Becker schmunzelnd. «Ich hab die 10 Gebote als Wegweiser bezeichnet und Sie empfanden das als einen guten Ausdruck. Auf dem Heimweg habe ich mir überlegt, ob man die 10 Gebote auch als eine Art Lernprogramm für ein gutes Leben bezeichnen kann. Ist wahrscheinlich so eine Art Berufskrankheit, alles in Computersprache zu übersetzen.» «Ich kenne das», meinte Pfarrer Becker und musste erneut schmunzeln. «Aber», fuhr Herr Wehrli fort, «als ich dann die 10 Gebote in der Bibel nachgelesen habe, da war ich ziemlich frustriert und enttäuscht. So ein Durcheinander. Da geht’s ja um alles Mögliche: um Götter und Gottesbilder, um Ruhetage, Söhne und Töchter, Väter und Mütter, um Mord und Ehebruch und Diebstahl und falsche Aussagen, um Häuser und Frauen und Sklaven und Rinder und Esel. Von einem ordentlichen, sauber aufgebauten Lernprogramm keine Spur.»
«Es sind schon verschiedene Vorschläge gemacht worden, die 10 Gebote zu ordnen», meinte Pfarrer Becker. «Etwa sie auf die zwei Steintafeln aufzuteilen, auf die sie nach der Bibel geschrieben sein sollen. Danach geht es auf der ersten Tafel um das Verhältnis der Menschen zu Gott und auf der zweiten Tafel um das der Menschen untereinander.» «Das ist doch was», meinte Herr Wehrli. «Bilder mit diesen zwei Tafeln habe ich schon gesehen. Vor kurzem haben wir die Synagoge in Lengnau besichtigt. Sind die da nicht über der Eingangstür abgebildet?» «Ja, genau», so Pfarrer Becker.
«Mir gefällt aber eine andere Ordnung der 10 Gebote besser. Danach steht ein Gebot im Zentrum: Du sollst nicht töten. Das Leben zu bewahren, das ist der Kern. Was dem Leben dient, das wird in den Geboten entfaltet, die den Kern einrahmen. Also zuerst in den beiden Geboten, die vorher und nachher kommen. Sie betreffen den engsten Lebensraum des Menschen, die nächsten Beziehungen: Eltern und Lebenspartner. Für diesen Raum Verantwortung zu übernehmen, das dient dem Leben. Vor allem dem Leben der Schwächeren in diesen Beziehungen, kleine Kinder oder alte Eltern. Und dann kommen die nächsten beiden Gebote, der nächste Rahmen. Sie beziehen sich auf den nächst grösseren, sozialen Raum.» – «Ich fange an, das Prinzip zu begreifen», sagte Herr Wehrli. «Aber wenn ich mich recht erinnere, geht es jetzt um die Gebote, den Ruhetag einzuhalten und nicht zu stehlen. Was haben die denn miteinander zu tun?» «Da geht es beide Male um Grenzen. Um Grenzen für das, was sich Menschen aneignen dürfen und was nicht. Solche Grenzen zu achten, dient dem Leben aller. Das nächste Gebotspaar richtet den Blick auf die Öffentlichkeit. Den Namen Gottes nicht zum Schaden anderer zu missbrauchen und nicht falsch auszusagen. Hier geht es um Wahrhaftigkeit im öffentlichen Umgang. Und schliesslich das letzte Paar von Geboten: Den Nächsten nicht um die lebensnotwendigen Dinge bringen und nicht versuchen, Gott zu manipulieren. Denn darum geht es im Verbot, sich ein Bild von Gott zu machen und es anzubeten. Es geht darum, die Freiheit der Anderen und die Freiheit Gottes zu achten. Das ist der weite Raum des Lebens in Freiheit, in den die 10 Gebote hineinführen.» «Also doch ein gut strukturiertes Lernprogramm und gleichzeitig ein Wegweiser», meinte Herr Wehrli. «Aber ein Gebot im Kern und dann vier Paare von Geboten drumherum. Das macht nur neun.» – «Und allem voraus die Erinnerung an befreiende Erfahrungen. Wissen Sie noch…»

Teil 5: Grenzstreitigkeiten

Beim Einkaufen in der Migros traf Pfarrer Becker Frau Wehrli Fernandez. „Da haben Sie ja was Schönes angerichtet!“ rief die ihm zu. Allerdings lächelte sie dabei. „Wieso?“, fragte Pfarrer Becker. „Naja“, sagte Frau Wehrli. „Gestern beim Abendessen haben mein Mann und ich von unseren Gesprächen mit Ihnen erzählt. Dass die Zehn Gebote nicht für Kinder geschrieben sind, sondern für Erwachsene. Daraufhin hat unser Sohn Justus sofort erklärt, dass er dann ja seine Hausaufgaben in Religion nicht machen und die Zehn Gebote nicht auswendig lernen muss. Das Problem müssen Sie im Religionsunterricht selbst lösen. Eines der Gebote konnte er aber schon auswendig: „Du sollst Vater und Mutter ehren“. Wenn es stimmt, was Pfarrer Becker sagt, hat er argumentiert, dann gilt das ja auch nur für euch Erwachsene und eure Eltern und nicht für uns Kinder. Daraufhin hat sein Opa seinen Enkel daran erinnert, dass sie erst vor ein paar Tagen im Werkzeugschuppen, beim Zusammenbauen ihres Modellflugzeuges, über dieses Gebot gesprochen hätten. Und dass Opa Karl das Gebot so übersetzt hätte: „Schenke deinen Eltern die Liebe, die sie dir schenken“. Das sei ein Gebot für alle Generationen und es fordere wechselseitig Liebe und Achtung. Dann hat sich Mareike, die Schwester von Justus, eingeschaltet: Wenn also Eltern ihre Kinder nicht achten, dann müssten auch die Kinder ihre Eltern nicht achten. Dass ich ihr zum Beispiel neulich verboten habe, so lange in den Ausgang zu gehen, wie sie wollte, das sei eine klare Missachtung ihrer Wünsche und sie würde jetzt, ganz im Sinn der Zehn Gebote, meine Regeln nicht mehr beachten. Und schon waren wir in einer ganz hitzigen Auseinandersetzung über alle möglichen Erziehungsfragen. Und daran sind Sie schuld“, schloss Frau Wehrli. Allerdings auch jetzt wieder lächelnd. „Puh“, seufzte Pfarrer Becker und lächelte ebenfalls. „Sie sind ja eine richtige Familie von Schriftgelehrten, die über die Auslegung der Bibel streitet. Das gefällt mir. Und ihre Kinder haben durchaus etwas von den Zehn Geboten verstanden. Das Gebot die Eltern zu ehren, betraf ursprünglich wirklich das Verhältnis von Erwachsenen zu ihren alten Eltern. Es geht dabei um die Versorgung im Alter. Es gab ja weder AHV noch Pensionskassen. Ich werde Justus aber erklären, dass man damals schon sehr früh erwachsen war. Mit 13 Jahren nämlich. Also dauert es nicht mehr lange, bis die Zehn Gebote auch für ihn gelten. Er kann also schon mal anfangen, sich einzuüben. Die Religionen haben übrigens beibehalten, dass man schon recht früh als erwachsen gilt. Im Judentum immer noch mit 13, bei uns im Christentum mit der Konfirmation oder der Firmung. Für das eigene Leben Verantwortung übernehmen, kann man schon recht früh.“ „Ja, das ist ein guter Hinweis“, sagte Frau Wehrli Fernandez. „Und Mareike? Wie finden Sie denn ihr Argument?“ – „Das Gebot die Eltern zu ehren, fordert keine blinde Unterwerfung. Das hat wieder mit dem ersten Satz der Zehn Gebote zu tun. Der, der an die grundlegende Erfahrung der Befreiung erinnert: Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus Ägypten, aus dem Sklavenhaus, geführt hat. Wir alle sind von unseren Eltern, von den Generationen, die uns vorausgegangen sind, auf diesen Weg in die Freiheit mitgenommen worden. Dafür sollten wir dankbar sein und dafür sollten wir sie achten und ehren. Aber wenn der Weg der Eltern zurück ins Sklavenhaus führt, dann ist es nötig, ihn zu verlassen und eigene Wege in die Freiheit zu suchen.“ – „Finden Sie, dass ich eine Sklavenhalterin bin, wenn ich meiner Tochter Grenzen für den Ausgang setze?“ – „So wie ich Sie kenne, definitiv nein. Auch ich setze meinen Kindern Grenzen. Es gibt Grenzen, die dem Leben dienen. Die Zehn Gebote sind solche Grenzziehungen. Aber irgendwann werden unsere Kinder selbst entscheiden müssen, welche Grenzen sie einhalten, weil sie ihrem Leben dienen und welche nicht.“

Teil 6:Im Gespräch

„Pfarrer Becker, wir möchten Sie zu uns einladen. Zum Znacht und danach zu einem Gespräch über die Zehn Gebote. Die ganze Familie wird da sein.“ Herr Wehrli Fernandez hatte am Telefon bei aller Herzlichkeit auch ein wenig unsicher geklungen. „Danke für die Einladung“, hatte Pfarrer Becker gesagt und hinzugefügt: „So eine habe ich noch nie bekommen. Eine echte Herausforderung. Ich freue mich und bin gespannt.“ Und jetzt sassen sie alle um den Tisch: Herr und Frau Wehrli Fernandez, Justus und Mareike, ihre Kinder im Teenageralter, Opa Karl und Pfarrer Becker. Die Teller vom Znacht waren abgeräumt, in die Wein- und Saftgläser war nachgeschenkt worden, Stille breitete sich aus. „Ich schlage vor, dass wir zusammen lesen, was eigentlich da steht in den Zehn Geboten der Bibel“, sagte Pfarrer Becker. Er packte 6 Bücher aus und verteilte sie. Ich habe Ihnen zwei Lesezeichen in die Bibeln gelegt, an die beiden Stellen, an denen die Zehn Gebote vorkommen.“ „Ach, die gibt es zweimal?“ rief Mareike überrascht. „Also 20 Gebote?“ „Nein, aber zwei verschiedene Fassungen der Zehn Gebote“, sagte Pfarrer Becker lachend, „mit vielen Gemeinsamkeiten, aber auch mit Unterschieden. Es gibt noch mehr Sammlungen von Geboten in der Bibel, aus verschiedenen Zeiten.“ „Und welche gelten dann?“, fragte Mareike. „Sie stehen alle miteinander im Gespräch. Und wir können an diesem Gespräch teilnehmen, wenn wir die Texte lesen“, antwortete Pfarrer Becker. „Das tun wir heute Abend.“ „Fangen wir doch mal zu lesen an“, schaltete sich Herr Wehrli ein, der langsam ungeduldig wurde. Er schlug seine Bibel am ersten Lesezeichen auf und begann: „Dann sprach Gott alle diese Worte: Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus. Du sollst neben mir keine anderen Götter haben. Das sind die ersten drei Verse. Der Satz mit dem Sklavenhaus, das weiss ich noch, gilt im Judentum als das erste der Zehn Wörter, wie die Zehn Gebote dort heissen. Im Christentum gilt der Satz als Einleitung und das erste Gebot ist: Du sollst keine anderen Götter neben mir haben.“ Er schaute seine Frau an. „Wie wichtig die Erinnerung an die Befreiung aus Sklavenhäusern ist, habe ich schon gelernt bei der ganzen Sache.“ „Und das erste Gebot, das habe ich für Justus so übersetzt“, sagte Opa Karl: „Das Wichtigste in deinem Leben soll die Liebe sein“. „Ja, und damit geht es los, das Ganze du sollst, du sollst, du sollst“, meinte Justus und seufzte. Frau Wehrli Fernandez, die bisher geschwiegen hatte, setzte sich auf und rief: „Dieser Text ist ja auch ein Gespräch! Fällt euch das auf? Ein „Ich“ spricht zu einem „Du“. Dein, dich, Du, mir, das kommt viermal vor in den wenigen Worten, die wir bisher gelesen haben. Das ist ein Gespräch über eine Beziehung.“ „Sie lesen wunderbar genau, Frau Wehrli“, sagte Pfarrer Becker. „Wirklich eine Familie von Schriftgelehrten. Einer der berühmtesten Bibelübersetzer, Martin Buber, hat das „Du“ einmal als Seele des Dekalogs, also des Zehnwortes, bezeichnet. Es ist keine abstrakte Gesetzessammlung, es sind keine allgemeinen Regeln im Sinn von „man sollte… Es ist ein ganz persönliches Gespräch. Wer die Worte liest, wird angesprochen und zu einer Antwort herausgefordert.“ „Das Lernprogramm der Zehn Gebote ist also sogar interaktiv“, meinte da Herr Wehrli und alle lachten. „Damit ist auch eine hohe Wertschätzung verbunden“, sagte Pfarrer Becker. „Um meinetwillen ist die Tora gegeben worden, damit ich sie erfülle, heisst es im Judentum. Die Tora, das meint hier alle Weisungen der Bibel.“ „Ja, aber“, schaltete sich hier Frau Wehrli wieder ein und blinzelte dabei ihrer Tochter zu. „Ich habe schon weitergelesen. Später heisst es: Du sollst nicht die Frau deine Nächsten begehren. Das spricht doch wohl nur Männer an, oder?“ „Und lesbische Frauen“ fügte Mareike keck hinzu.

Teil 7: Das Gespräch geht weiter

Spät war es geworden in der Stube von Familie Wehrli Fernandez. Die Gläser waren leer getrunken, die Kerzen heruntergebrannt. Im Gespräch mit Pfarrer Becker und dem Bibeltext hatten sie sich Gedanken über viele der Zehn Geboten gemacht. „Du sollst nicht ehebrechen“, zum Beispiel. Dieses Gebot hatte Opa Karl so übersetzt: „Enttäusche Vertrauen nicht.“ Und hinzugefügt: „Da geht es um viel mehr als um Sex.“ Pfarrer Becker hatte Herrn Wehrli an ihr Gespräch im Computerladen über das Lernprogramm der Zehn Gebote erinnert. Daran, dass die Gebote paarweise angeordnet sind, dass dieses Gebot zusammen mit dem Gebot die Eltern zu ehren, den engsten Lebensraum von Menschen betrifft und sie die schwächsten Glieder darin schützen sollen, die Alten und die Kinder. „Beim Gebot die Ehe nicht zu brechen, geht es demnach darum, Kindern eine stabile und sichere Umgebung zu bieten, in der sie aufwachsen können“, hatte Pfarrer Becker gesagt und: „Dafür sind die Erwachsenen verantwortlich.“ Justus und Mareike erzählten von den verschiedenen Familienformen, in denen die Kinder aus ihrer Schule lebten. Jennifer und Florian zum Beispiel bei ihrer Mutter und jedes zweite Wochenende bei ihrem Vater. Nina hatte einen neuen Papa bekommen und zwei schon erwachsene Geschwister. „Die nehmen sie manchmal mit in den Ausgang. Die Nina darf viel länger wegbleiben als ich“, ereiferte sich Mareike. „Die Erwachsenen haben die Verantwortung für verbindliche Beziehungen, die Kindern leben und wachsen helfen. Das ist für mich die Botschaft der Zehn Gebote“, sagte Pfarrer Becker und fuhr an Mareike und Justus gewandt fort: „Du hast vorhin die lesbischen Frauen erwähnt, Mareike. Wie wäre es für euch, zwei Mütter zu haben?“ „Wenn es nette Mütter sind…“, sagte Mareike nachdenklich. „Ich habe einen Lesetipp für dich: das Buch Rut in der Bibel“, meinte Pfarrer Becker. „Da geht es um Verantwortung für Beziehungen und um zwei Mütter“. „Zwei Mütter?“ erregte sich Justus. “ Nur, wenn mindestens eine gerne Modellflieger baut.“ „Das machen bei uns ja weder der Papa noch die Mama mit dir, sondern der Opa“, sagte Frau Wehrli Fernandez. „Und besonders toll wird’s, wenn dein Götti mit seinen Modellflugzeugen kommt“, fügte ihr Mann hinzu. „Für verbindliche Beziehungen gibt es die verschiedensten Formen“, meinte Pfarrer Becker. „In Afrika gibt es sogar das Sprichwort: Um ein Kind zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf. Das ist ziemlich biblisch gedacht. Die Bibel geht davon aus, dass Menschsein nur in Beziehungen möglich ist. Gott schuf die Menschen nach seinem Bild, als Mann und Frau, heisst es im Schöpfungsbericht. Menschen, die verschieden, aber aufeinander bezogen sind, sind das Bild Gottes.“ Frau Wehrli unterbrach ihn: „Ich hänge immer noch am letzten Gebot. „Du sollst nicht begehren…“ Das ist doch eigentlich eine Unmöglichkeit. Wir begehren und wünschen uns doch ständig etwas. Dagegen kann man doch gar nichts machen. Und warum soll das immer schlecht sein? Solange ich niemandem damit schade.“ Ich habe einen Freund“, sagte Pfarrer Becker. „Er ist Jude und hat sich intensiv mit diesem Gebot beschäftigt. Ich würde ihn gerne in unsere Gesprächsrunde aufnehmen. Haben Sie Interesse? Dann treffen wir uns doch nächste Woche im Pfarrhaus. Unsere Gesprächsrunde geht weiter und wird weiter, das gefällt mir.“

Teil 8: Gefühle

Einige Tage später fand sich die Gesprächsrunde im Pfarrhaus zusammen. Pfarrer Becker stellte seinen Freund vor. „Samuel Kohn ist ein jüdischer Schriftgelehrter“, sagte er. „Ich meine das anerkennend, weil der Ausdruck in der christlichen Tradition leider keinen guten Klang hat. Ich fände es schön, wenn Kinder als Traumberuf neben Astronautin und Lokomotivführer auch Schriftgelehrte hätten. Samuel hat sich intensiv mit den Zehn Geboten beschäftigt, besonders mit dem letzten: ‚Du sollst nicht begehren‘. In der katholischen und der lutherischen Tradition ist es übrigens auf zwei Gebote aufgeteilt „. Herr Kohn griff das Stichwort auf: „Die ersten neun Gebote haben den Anschein, anspruchsvoll, aber erfüllbar zu sein“, sagte er. „Die meisten Menschen achten ihre Eltern, sind keine Mörder, beten keine anderen Götter an und knien nicht vor Statuen und Bildern nieder.“ Und mit einem Schmunzeln fuhr er fort: „Hier und da findet man sogar Bürgerinnen und Bürger, die nicht stehlen, keine Falschaussagen machen, den Sabbat halten und nicht ehebrechen. Und so kann man die ersten Gebote zufrieden abhaken, der eine fünf, der andere acht oder neun, in dem Gefühl, mehr oder weniger das zu tun, was dem Herrn wohlgefällt. Doch dann kommt das letzte Gebot an die Reihe.“ Er machte eine kleine Pause. „Alle begehren. Vereinzelt oder häufig, einmal im Jahr oder zweimal am Tag. Frustrierend und lähmend oder nützlich und fruchtbar. Man begehrt das Haus des Nachbarn, seine Begabungen, seine Frau, ihren Mann, wünscht sich sein Auto, seinen Esel, sein Äusseres, seine Position. Ich erlaube mir zu unterstellen, dass auch grosse Gerechte nicht frei von dieser oder jener Art von Begierde sind.“ „Die zehn Gebote richten sich ja in erster Linie an Menschen, die Einfluss in der Gesellschaft haben“, wandte Herr Wehrli ein. „Die sind in der Regel ja nicht arm und besitzlos. Bei diesem Gebot geht es also darum, den Besitzanspruch der Reichen und Mächtigen zu begrenzen, oder?“ „Ja“, sagte Pfarrer Becker. „Die Kritik am Reichtum, der anderen die Lebensgrundlagen wegnimmt, ist ein roter Faden durch die Bibel. Darum geht es hier auch. Und um mehr. Das Gebot richtet den Blick auf unseren Umgang mit Gefühlen und Bedürfnissen. Da liegen die Wurzeln unseres Handelns. Die Zehn Gebote sind eben keine Gesetze, sondern ein Gespräch. In diesem Fall sogar ein Gespräch über Intimes und Persönliches.“ „Aber hier werden Gefühle doch verboten. Das geht doch gar nicht. Das sorgt doch nur dafür, dass ein ständiges Schuldgefühl entsteht, das Menschen krank macht. So hat die Kirche doch jedes lustvolle Gefühl zur Sünde gemacht“, empörte sich Frau Wehrli Fernandez. Samuel Kohn reagierte: „Wissen Sie, wann in der Bibel zum ersten Mal von Sünde die Rede ist? Nicht bei Adam und Eva, trotz der Bezeichnung Sündenfall für ihre Geschichte. Sondern erst bei Kain und Abel. Es heisst, dass beide opfern, aber Gott nur auf das Opfer Abels schaut. Das löst bei Kain heftige Gefühle aus, die wir alle, glaube ich, gut nachvollziehen können. Kain hört von Gott: ‚Wenn du recht tust, darfst du aufblicken; wenn du nicht recht tust, lauert die Sünde an deiner Tür. Du aber kannst sie beherrschen.‘ Kains Gefühle werden nicht bewertet. Sie sind nicht die Sünde. Entscheidend ist der Umgang mit den Gefühlen. Und dabei traut Gott dem Kain sehr viel zu.“ „Ich bin ja katholisch“, meldete sich jetzt der alte Herr Wehrli, Opa Karl, zu Wort. „Ich habe die beiden letzten Gebote so übersetzt: ‚Beherrsche dich und handle verantwortungsvoll‘ und ‚freu dich an dem, was du hast‘. Genau das sagt Gott hier zu Kain, oder?“ „Ja“, meinte Pfarrer Becker. „Kain soll sich nicht abhängig machen, von dem was andere haben. Noch nicht einmal von Gottes Aufmerksamkeit.“ Damit endete der Abend. Das letzte Wort aber hatte Justus. „Wisst ihr, wo es neuerdings den Beruf des Schriftgelehrten gibt? Im Computerspiel World of Warcraft.“

Anmerkung: Samuel Kohn spricht hier mit den Worten von Meir Shalev aus dessen Buch „Aller Anfang. Die erste Liebe, das erste Lachen, der erste Traum und andere erste Male in der Bibel“ (Diogenes Verlag Zürich 2010, Kapitel „Das erste Gesetz“)

Teil 9: Das Grundprinzip der Bibel

Nach dem Gesprächsabend im Pfarrhaus ging Familie Wehrli Fernandez nach Hause. Samuel Kohn begleitete sie, denn sie hatten ein Stück weit den gleichen Weg. Herr Wehrli fragte: „Die Zehn Gebote, die haben Christentum und Judentum doch gemeinsam, oder? Auch wenn Sie die ‚Zehn Worte‘ dazu sagen, oder?“ „Ja, genau. Das Zehnwort – daher kommt übrigens der griechische Name Dekalog – verbindet uns. Man kann viel über das Verhältnis von Judentum und Christentum lernen, wenn man sich die Zehn Gebote anschaut.“ „Das müssen Sie genauer erklären“, sagte Frau Wehrli Fernandez. „Das interessiert mich. Ist es nicht so, dass es im Judentum eine riesige Zahl von Gesetzen gibt und dass Jesus die alle abgeschafft hat bis auf das Gebot der Nächstenliebe?“ „In der Tora, den 5 Büchern Mose, gibt es in der Tat viele Gesetze. Wir zählen 613 Gebote und Verbote. Immer wieder wurde gefragt, ob und wie sich diese Gesetze zusammenfassen lassen. Als eine Zusammenfassung oder besser Verdichtung aller Gesetze, ja sogar der ganzen Tora, gilt der Dekalog. Tora, so nennen wir die 5 Bücher Mose. Rabbi Chananja, ein Gelehrter im 2. Jahrhundert hat dafür ein Bild gefunden: Wie im Meer zwischen einer grossen Welle und der nächsten grossen Welle kleine Wellen sind, so sind zwischen den zehn Worten die einzelnen Buchstaben der Tora. Beim Zusammenfassen oder Verdichten geht es uns nicht darum, aus vielen Geboten wenige zu machen, sondern darum, das Grundprinzip der Gesetze zu entdecken. Darüber haben unsere Gelehrten gerne und viel diskutiert. Und Jesus hat bei solchen Diskussionen mitgemacht. Er war eben auch ein jüdischer Schriftgelehrter.“ „Woher wissen Sie das?“ fragte Herr Wehrli. „Aus dem Neuen Testament“, sagte Herr Kohn. „Da wird erzählt, wie ein Schriftgelehrter Jesus fragt, welches Gebot das Wichtigste ist. Jesus zitiert aus der Tora: Du sollst Gott lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinen Gedanken. Und du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Das sind Bibelzitate, die durchaus als Zusammenfassung der Zehn Gebote gelten können. Jesus sagt: An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz samt den Propheten, also die ganze Bibel. Er versteht sie also als Grundprinzip der Bibel, nicht als Ersatz für alle anderen Gesetze.“ „Warum sind dann die Zehn Gebote nicht die Brücke zwischen Judentum und Christentum geblieben?“ fragte Opa Karl. „Im Christentum wurde die Meinung immer stärker, dass sich die vielen biblischen Gesetze durch einige wenige ersetzen lassen“, sagte Herr Kohn. „Schliesslich wurden von all den biblischen Gesetzen fast nur noch die Zehn Gebote wahrgenommen. Alle anderen, sagte man, gehören zur jüdischen Gesetzesreligion. So wertete man das Judentum ab.“ „Dieses falsche Bild habe ich auch im Kopf“, sagte Frau Wehrli. „Das tut mir leid“. „Bilder lassen sich korrigieren“, sagte Herr Kohn. „Und unsere Bilder voneinander beeinflussen unser Verhältnis. Sie beeinflussen sogar unseren Umgang mit den Zehn Geboten. Zur Zeit Jesu wurden sie täglich im Tempel von Jerusalem vorgetragen. Später, in der Synagoge, nur noch dreimal pro Jahr. Man wollte auf keinen Fall die Meinung fördern, dass die Zehn Gebote wichtiger als alle anderen Gesetze sind.“ „Das erinnert mich daran, wie Katholiken und Reformierte lange miteinander umgegangen sind“, sagte Opa Karl. „Was bei den einen besonders wichtig war oder als typisch galt, das haben die anderen bei sich nicht gepflegt und oft auch bei den anderen abgewertet. Weil die Reformierten die Bibel ins Zentrum stellten, haben Katholiken fast gar nicht in der Bibel gelesen. Und erst heute merkt man, dass die Bibel eigentlich etwas Verbindendes ist.“ „Die schönste Verbindung wäre die, wenn wir die Andersartigkeit der Anderen nicht abwerten müssten, sondern sie uns neugierig machen würde“, sagte Herr Kohn noch. Dann bogen die Wehrlis in die Strasse ab, in der sie wohnten.

Teil 10: Meine Meinung ist gefragt

«Liebe Familie Wehrli Fernandez, lieber Pfarrer Becker. Schön, dass wir in letzter Zeit mit Ihnen unterwegs sein durften und Sie uns auf Ihre Entdeckungsreise durch die 10 Gebote mitgenommen haben. Am Gesprächsstoff liesse sich sicher noch lange weiter weben, dennoch machen wir heute einen Halt – mit diesem Interview.

Familie Wehrli Fernandez: Was war überraschend bei der Begegnung mit den 10 Geboten?

Herr Wehrli: Ich habe viel von meiner Begeisterung für Computer in den 10 Geboten wieder entdeckt. Sie sind ein Programm mit klaren Bausteinen, das beinahe unendlich viele Verknüpfungen und Anwendungsmöglichkeiten erlaubt. Und man benutzt es mit grösserem Gewinn, wenn man mit anderen vernetzt ist.

Frau Wehrli Fernandez: Mich hat am meisten überrascht, wie wir bei uns zuhause in der Bibel gelesen haben und miteinander ins Gespräch gekommen sind. Jedem ist etwas Anderes aufgefallen. Das hat den Text gleichzeitig verständlicher und geheimnisvoller gemacht. Wir sind dadurch nicht nur dem Text, sondern auch uns ganz achtsam begegnet.

Opa Karl: Ich habe ja im Lauf der Arbeit an Justus‘ Modellflugzeug die 10 Gebote übersetzt. Es sind vor allem Regeln für Einzelne geworden. Jetzt spüre ich, dass die 10 Gebote auch eine starke Verbindung zu anderen Menschen sind, weil sie zu unserer jüdisch-christlichen Geschichte gehören.

Mareike: Wir konnten gut streiten. Die Erwachsenen wussten nicht immer schon alles und meine Meinung war voll gefragt. Ich hab in diesem Buch Rut in der Bibel gelesen. Echte Frauenpower.

Justus: Schriftgelehrte sind nicht nur für das Computerspiel World of Warcraft eine gute Sache. Die kann man manchmal auch im richtigen Leben brauchen.

Herr und Frau Wehrli, haben Sie in Ihrem Umfeld von Ihren Gesprächen über die 10 Gebote erzählt? Welche Reaktionen gab es?

Herr Wehrli: Meinen Arbeitskollegen habe ich nichts erzählt. Ehrlich gesagt, als Pfarrer Becker bei uns im Laden war, war ich froh, dass sonst niemand da war. Aber neulich nach dem Training, da hatte ich ein gutes Gespräch beim Bier. Dass die 10 Gebote Menschen mit Verantwortung ansprechen, das hat Interesse geweckt.

Frau Wehrli Fernandez: Vielen meiner Freundinnen geht es wie mir. Wir haben Kirche und Religion eigentlich hinter uns gelassen. Aber durch die Kinder kommen manche Fragen wieder auf. Ich habe gemerkt, dass es nicht nur einen kindlichen, sondern auch einen erwachsenen, kritischen Zugang gibt. Davon habe ich erzählt.

Justus, wie war das für dich, dieses Gespräch zwischen den Erwachsenen zu verfolgen?

Justus: Zuerst kam es mir schon ziemlich komisch vor, etwa als meine Eltern mit dem Pfarrer in die Beiz gegangen sind. Wenn sich das rumspricht, wird das extrem peinlich, dachte ich. Aber irgendwie war es auch cool. Mich hat überrascht, dass es viele Männer gibt, die sich mit solchen Fragen beschäftigen. Gut, von Opa wusste ich es schon und Pfarrer Becker muss es ja von Berufs wegen. Aber Papa und Herr Kohn, das war schon was Neues.

Pfarrer Becker, was nehmen Sie mit aus dieser Erfahrung?

Pfarrer Becker: Ich bin froh, dass aus dem Auswendiglernen der 10 Gebote im Religionsunterricht ein so offenes Gespräch geworden ist. Die Bibel selbst ist ein Gespräch. Und ein Gespräch ist die beste Form der Bibelauslegung. Dabei geht es nicht darum, dass alle einer Meinung sind. Sondern darum, bei aller Verschiedenheit verbindlich miteinander umzugehen.

Eine letzte Aufgabe an alle: Fassen Sie ihre wichtigste Erfahrung mit den 10 Geboten in einem Satz zusammen!

Mareike: Streit ist geil!
Frau Wehrli Fernandez: Ich bin Anwältin für freie Zeit.
Pfarrer Becker: Die Bibel ist ein Gespräch.
Herr Wehrli: Weisst du noch?
Opa Karl: In gutes Handwerk fliesst viel Erfahrung ein.
Justus: Ich bin nicht allein.»

Peter Zürn

Erstmals veröffentlicht in Horizonte Aargau 2010.